von Elisa Tizzoni
Kann eine schlichte Arbeitstabelle Interesse für ein bisher vernachlässigtes Thema in der europäischen Geschichte auslösen? Und kann ein Blick auf die Dokumentation des EU-Parlaments Überlegungen über die Rolle des Tourismus in unserer Gesellschaft und seine Auswirkungen auf die europäische Integration anregen?
Das sind die Herausforderungen, die ich mir gestellt habe, als ich mich um ein NFDI4Memory FAIR Data Fellowship am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte beworben habe, um Unterstützung bei der Aufbereitung und Veröffentlichung eines Datensatzes zu erhalten, das die vom Europäischen Parlament zum Thema Tourismus im Zeitraum 1979-1999 vorgelegten Anfragen erfasst.
Forschungskontext
Der Datensatz stammt aus meinem Post-Doc-Projekt über die Geschichte der europäischen Tourismuspolitik, das ich 2017 dank eines Stipendiums vom European University Institut in Florenz begonnen und in den folgenden Jahren weiterentwickelt habe, mit dem Ziel, einen Beitrag zur Geschichte der europäischen Integration zu leisten und die vielfältigen Bedeutungen des Tourismus in der Schaffung eines gemeinsamen Europas hervorzuheben.
Aus den Studien, die bislang über die gemeinsame ressortorientierte Politik durchgeführt wurden, geht hervor, dass das Europäische Parlament bei der Erweiterung des EWG/EU-Aktionsradius auf verschiedene Weise mitgewirkt hat.
Schon zu Beginn meiner Forschung wurde deutlich, dass das Europäische Parlament über die Jahrzehnte auch bei der Entwicklung der europäischen Tourismuspolitik eine entscheidende Rolle spielte, da die Abgeordneten mit ihren Anfragen eine Vielzahl von Themen hinsichtlich der Probleme und Möglichkeiten des Fremdenverkehrs sowie der Folgen des Tourismuswachstums ansprachen. Zur Schaffung einer gemeinsamen Tourismuspolitik musste aber ein schwieriger Weg zurückgelegt werden. Im EWG-Vertrag war kein Hinweis auf den „Tourismus“ zu finden, jedoch hat die europäische Integration einen entscheidenden Beitrag zur Tourismusentfaltung geleistet. Einerseits wurden die innereuropäischen Reisen durch die Errichtung eines gemeinsamen Marktes, die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten, die Einführung einer gemeinsamen Politik im Rahmen des Verkehrs und die Förderung des Wettbewerbs innerhalb des gemeinsamen Marktes erleichtert. Die EWG ermöglichte außerdem die Standardisierung von Tourismusdienstleistungen und schaffte günstigere Bedingungen für den Fremdenverkehr.
Andererseits spielte der Tourismus eine nicht zu unterschätzende Rolle beim Aufbau eines gemeinsamen Europas, da innereuropäische Reisen die Versöhnung nach dem zweiten Weltkrieg förderten, die gegenseitige Kenntnis der Europäer anregten sowie einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum und zur wirtschaftlichen Konvergenz der unterschiedlichen Regionen leistete.
Darüber hinaus profitierte der Fremdenverkehr über die Jahrzehnte von den Fortschritten der Integration, vor allem von der Einrichtung des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, der Tourismusprojekten finanzielle Unterstützung anbot. Die Erweiterung der EWG und der EU war weiteren Entwicklungen zuträglich, da der Beitritt von Ländern, die schon vorher dem Massentourismus ausgesetzt waren (Griechenland im Jahr 1981, Spanien und Portugal im Jahr 1986), dazu beitrug, das Augenmerk der europäischen Einrichtungen auf touristische Fragen zu lenken. Deswegen ist es kein Zufall, dass erst 1981 in der Europäischen Kommission ein Abgeordneter mit der Zuständigkeit für Tourismus betraut wurde: Georgios Contogeorgis aus Griechenland.
Die Ausbreitung des Massentourismus hatte jedoch auch negative Folgen für das soziale Gleichgewicht der lokalen Gemeinschaften und vor allem für die Umwelt – ein Thema, das, genau wie der Tourismus, im EWG-Vertrag nicht erwähnt wurde. Daher verfolgte das Parlament zwischen der ersten Direktwahl und den frühen 1980er Jahren zwei Ziele: Einerseits sollte die Aufmerksamkeit der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates auf die Bedeutung des Tourismus gelenkt werden, um eine gemeinsame ressortorientierte Politik einzuführen und die bereits bestehenden branchenrelevanten Maßnahmen zu verbessern. Andererseits sollten die negativen sozialen und ökologischen Auswirkungen der Fremdverkehrsindustrie aufgezeigt und geeignete Gegenmaßnahmen entwickelt werden. Auch dank der Impulse des Europäischen Parlaments erkannte der Europäischen Rat 1984 die Zuständigkeit der EWG für den Tourismus an, indem er die zwei Jahre zuvor herausgegebenen „ersten Überlegungen der Kommission zu einer Fremdenverkehrspolitik der Gemeinschaft“ annahm, die den ökologischen Belangen besondere Aufmerksamkeit schenkten.
1992 änderte der Vertrag von Maastricht den Artikel 3 des EWG-Vertrags, sodass Tourismus im Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union ausdrücklich anerkannt wurde. Dennoch blieb noch viel zu tun, um das europäische Tourismussystem nachhaltig zu gestalten und seine Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt zu steigern. Daher bemühte sich das Parlament, eine ökologische Wende in der Tourismuspolitik durchzusetzen und ethische Bedenken in Bezug auf die sozialen Kontakte zwischen Touristen und Einheimischen einzubringen, insbesondere nach dem Beitritt von Österreich zur Europäischen Union (1995), einem Land mit langjähriger Erfahrung sowohl im Massentourismus als auch in nachhaltiger Politik. Dieser kurze Überblick gewährt einen Eindruck von der Vielfalt der Themen und Fragen, die mit der Entwicklung der gemeinsamen Tourismuspolitik verbunden sind, und von der entscheidenden Rolle, die das Europäische Parlament dabei gespielt hat.

Inhalt des Datensets
Mit dem Ziel, eine möglichst vollständige Übersicht über das Engagement des Europäischen Parlaments für die gemeinsame Tourismuspolitik zu schaffen, habe ich eine Tabelle erstellt, die die wichtigsten Angaben über die Parlamentsanfragen in Bezug auf Fremdenverkehr als strukturierte Daten wiedergibt.
Der Datensatz basiert auf einer Abfrage der digitalen Ausgabe des Amtsblatts der Europäischen Union (englische Fassung), wobei als Suchbegriff die im Titel vorkommenden Wörter „tourism“ oder „tourist“ verwendet wurden. Die Abfrage wurde in den Titeln der parlamentarischen Anfragen durchgeführt und nicht im Text, um Anfragen auszuschließen, die keinen direkten Bezug zum Thema Tourismus hatten, obwohl sie die Wörter „tourism“ oder „tourist“ im Text enthielten.
Ziel war es, die schriftlichen Anfragen zu tourismusbezogenen Themen abzurufen, die die Mitglieder des Europäischen Parlaments zwischen 1979 und 1999 an die Europäische Kommission oder den Europäischen Rat gerichtet haben. Der Zeitraum berücksichtigt die Legislaturperioden des Europäischen Parlaments. Er beginnt mit dem Jahr der ersten Direktwahl des Parlaments und endet mit der vierten Legislaturperiode, also Ende der 1990er Jahre.

Für jede Anfrage (insgesamt 271) wurden folgende Informationen in einer Excel-Tabelle erfasst: CELEX-Nummer, Datum, Titel, Hauptthemen (bis zu 3 Themen, ausgewählt aus einer Liste von 10 Themen), erwähnte Orte, die Institution, an die die Anfrage gerichtet ist (Kommission oder Rat), der/die Fragesteller:innen, die politische Fraktion des/der Fragesteller:innen, die Nationalität des/der Fragesteller:innen. Im Datensatz sind jeder parlamentarischen Anfrage bis zu drei Themen zugeordnet. Die Themenzuordnung erwies sich insbesondere bei sehr allgemeinen Titeln (z. B. „Tourismus“) als nützlich, da sie einen Überblick über den Inhalt ermöglichte. Die Themenzuordnung basiert auf dem Inhalt der Anfrage. Dabei wurde unterschieden, welches Thema den Hauptpunkt der Anfrage ausmachte (erstes Thema) und welche weiteren Themen explizit angesprochen wurden (zweites und drittes Thema). Die Themenzuordnung bezieht sich allein auf die Anfrage, denn die Antworten der EU-Kommission sind oft synthetisch oder behandeln nur einige der in der Frage genannten Punkten.
Datenbearbeitung und Plattformwahl
Dank des NFDI4Memory FAIR Data Fellowship habe ich bei der Datenbearbeitung und der Plattformwahl Unterstützung vom DH Lab des IEG erhalten. Erstens wurde die Nummer der Anfragen, die im Amtsblatt zu finden war, durch die CELEX Nummer ersetzt, sodass damit ein eindeutiger Identifier zur Verfügung steht, mit dem man den Text der Anfragen in jeder Sprache abrufen kann. Zweitens wurden die Auswahl der Themen und die Kriterien der Zuordnung besprochen. Außerdem wurde die Qualität des Datensatzes überprüft.
Dazu kann ich folgendes Beispiel anfuhren: In fünf Fällen, in denen eine weitere Antwort auf dieselbe parlamentarische Anfrage gegeben wurde, ergab die Suche im Amtsblatt für jede Antwort separate Einträge. In der Excel-Tabelle wurden diese Fälle in einem einzigen Eintrag zusammengeführt.
Anschließend wurden die Angaben in der Tabelle standardisiert und mit Normierungen angereichert. Die im Amtsblatt fehlenden Nationalitäten der Fragesteller wurden hinzugefügt und die Abkürzungen der politischen Gruppen der Abgeordneten wurden gemäß einer Liste auf der Website des Europäischen Parlaments standardisiert und es wurde eine Liste der in der Tabelle auftauchenden Abkürzungen erstellt. Da sich die Suche einer spezifischen Publikationsplattform für den Datensatz, die disziplinär oder thematisch mit meiner Forschungsarbeit übereinstimmt, als ergebnislos erwies, fiel die Wahl auf das generische Repositorium zenodo.
Um die Weiternutzung der Daten möglichst einfach zu gestalten, habe ich mich für die Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 entschieden, die eine Weiternutzung der Daten unter Angabe der Urheberschaft erlaubt.
Abschließend habe ich ein sogenanntes Datenblatt erstellt, das den Datensatz vorstellt, seine Ziele und Inhalte erklärt und den Leser:innen hilft zu entscheiden, ob die Daten für ihre Zwecke geeignet sind, auch wenn sie keine Expert:innen der Themen meiner Forschung sind.
Weitere Nutzungen des Datensets
Zusammenfassend wird durch die Publikation des Datensatzes Licht auf einen wenig erforschten Aspekt der Geschichte der europäischen Integration geworfen, denn die gesammelten Anfragen bieten einen Überblick über die Rolle des Parlaments in der Entwicklung einer europäischen Tourismuspolitik, was die Kenntnisse und Vorstellungen der Leser:innen zur Geschichte der europäischen Integration und der Entwicklung des europäischen Tourismus erweitern kann.
Hinzu kommt, dass der Datensatz die Verknüpfung verschiedener Variablen (z. B. Themen der Anfragen und erwähnte Orte) ermöglicht und auch Veränderungen im Zeitverlauf darzustellen.
Der Datensatz kann Forschende der Geschichte oder Sozialwissenschaft unterstützen, da die Themen nicht nur auf den Tourismus beschränkt sind, sondern auch die Sozialgeschichte oder Wirtschaftsgeschichte Europas und seine globale Rolle, die politischen und institutionellen Aspekte des Integrationsprozesses, die Auswirkungen des Tourismus auf die Umwelt und die Umstellung auf nachhaltige Urlaubsmuster betreffen, um nur einige der vielversprechendsten Bereiche zu nennen, die in den Anfragen erwähnt wurden. Außerdem können Forscher:innen die Daten für Studien über unterschiedliche Zeiträume oder EWG/EU Mitgliedsländer nutzen. Darüber hinaus liefert der Datensatz relevante Angaben über das Engagement einzelner Mitglieder des Europäischen Parlaments bei Fragen, die den Tourismus (und nicht nur) betreffen.
Wert des Stipendiums
Meiner Erfahrung nach lag ein besonderer Wert des NFDI4Memory FAIR Data Fellowship vornehmlich in der Kompetenz des IEG und in den dort möglichen menschlichen Kontakten. Obwohl das Stipendium remote stattfand, konnte ich mich dank der wissenschaftlichen Beratung und der Beteiligung an allen Initiativen im Rahmen von NFDI4Memory als Teil des Instituts und des Programms begreifen. Persönlich habe ich vor allem die Professionalität und Freundlichkeit der Expert:innen des IEG geschätzt, denn sie haben mich Schritt für Schritt in der Verbesserung und der Veröffentlichung meines Datensatzes begleitet und in die Eckpfeiler des NFDI4Memory Projekts und die Eigenschaften der online-Repositorien eingeführt. Wenn auch nur kurz, betrachte ich meine Erfahrung als NFDI4Memory FAIR Data Fellow als einen wichtigen Moment in meiner Karriere, der mich sowohl persönlich als auch beruflich bereichert hat.
Ich möchte mich besonders bei Constanze Buyken, Fabian Cremer und Christiane Weber bedanken, die mich freundlich, kompetent und geduldig unterstützt haben.
Datensatz
Tizzoni, E., Europe Goes on Holiday. The European Parliament’s contribution to the making of a common tourism policy (1.0) [Data set]. Zenodo, 2025, https://doi.org/10.5281/zenodo.15096327.
Literaturverzeichnis
- European Parliament: Directorate-General for Parliamentary Research Services, Corbett, R., Kaiser, W., Schirmann, S., Warlouzet, L. et al., Shaping European integration – The directly elected European Parliament, 1979-1989, Publications Office of the European Union, 2024, ISBN 9789284812387.
- Tizzoni, E., Europeans on Holiday. The Tourism Policy of the European Economic Community and the Integration Process, in: “Journal of European Integration History / Revue d’Histoire de l’Intégration Européenne / Zeitschrift für Geschichte der Europäischen Integration”, 2(2019), 189-206, ISSN Print 0947-9511 ISSN Online 2942-321X.
- Tizzoni, E., Il turismo e la costruzione dell’Europa. Le politiche turistiche dei Paesi europei tra sviluppo economico e soft power, FrancoAngeli, 2021, ISBN 9788835117247.
Featured Image: Flags waving in front of the Louise Weiss building in Strasbourg (Photographer: Denis LOMME). Copyright: European Union 2021, Source : European Parlament (EP-119951A).
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Elisa Tizzoni (25. April 2025). Europe Goes on Holiday: Potenziale und Herausforderungen der Aufbereitung von Daten über den Beitrag des Europäischen Parlaments zur gemeinsamen Tourismuspolitik. DH Lab. Abgerufen am 14. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13tct